28/04/2024

Die Welt verändern, ohne die Macht zu übernehmen?

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Peter Birke rezensiert John Holloways Suche nach Alternativen zum »traditionellen Marxismus«

Peter Birke

Um es vorweg zu nehmen: Die Frage, wie die Welt verändert werden kann, ohne die Macht zu übernehmen, beantwortet Holloway nicht. Denn gegen Rezepte, Modelle und Schematismus ist der Autor vollkommen allergisch. Was im Buchtitel formuliert wird, ist als Herausforderung zu verstehen. Als Herausforderung der weit verbreiteten Ansicht, dass wir am Ende der Geschichte angekommen sind. Und als Herausforderung dessen, was Holloway als traditionellen Marxismus bezeichnet, der auf eine Eroberung der Staatsgewalt setzte, um diese dann im Namen des Proletariats (bzw. des »Volkes« u.s.w.) zu benutzen. Um zu verstehen, wie ein Professor der Autonomen Universität in Puebla/Mexiko auf die Idee kommt, ein ganzes Buch solchen Herausforderungen zu widmen, hilft es vielleicht, etwas über seinen politischen und theoretischen Bezugsrahmen zu erfahren.

Zunächst ist für Holloways Selbstverständnis von ganz zentraler Bedeutung, dass er Theorie als Teil einer emanzipatorischen Praxis versteht. Er möchte raus aus dem Elfenbeinturm, sich der Absonderung der »Theorie« verweigern. Theorie ist für ihn eine Form der Praxis, die nicht wichtiger oder bedeutender ist als andere Formen. Der akademische Diskurs und - beispielsweise - die Bewegung der Zapatisten in Mexiko sind nach seiner Auffassung zwei Seiten desselben Prozesses. Immer wieder betont Holloway den »gesichtslosen«, anti-hierarchischen Charakter der Rebellion in Chiapas. Es ist ihm wichtig, dass diese Bewegung, zumindest bisher, auf die »Eroberung der Macht« ebenso verzichtet hat wie auf die Forderung nach einem »indigenen« Staat. Aus seiner Sicht sind diese Elemente in den 1990er Jahren auch in Streikbe-wegungen und in der Anti-Globalisierungsbewegung hervorgetreten, als Beispiele nennt er die Kämpfe der Liverpooler Docker sowie die Anti-WTO-Proteste von Seattle. Doch seine Kritik am Verhältnis marxistischer Theorien zu den neuen sozialen Bewegungen wurde selbstverständlich nicht erst durch die Ereignisse in Chiapas, Liverpool oder Seattle ausgelöst.

Bereits in den 1970er und 1980er Jahren provozierte der weltweite Aufbruch (und Niedergang) der Emanzipationsbewegungen eine Neuorientierung des akademischen Marxismus: Unter anderem wurden in dieser Zeit die KritikerInnen des Partei- und Staatsmarxismus aus der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts neu entdeckt. So betonten einige Marxisten unter Hinweis auf Schriften des italienischen Kommunisten Antonio Gramsci gegenüber mechanisch-ökonomistischen »Ableitungen« die relative Eigenständigkeit der kulturell-politischen Sphäre. Der Zusammenhang von ökonomischer Basis und kulturell-politischem Überbau wurde im Begriff der Formation gefasst. Als »Fordismus« wurden die kapitalistischen Nachkriegsgesellschaften von anderen »Formationen« abgegrenzt. Als Resultat der Klassenkämpfe der Vergangenheit stellte der »Fordismus« letztlich einen »historischen Kompromiss« dar.

Holloway war skeptisch. Er sah den »historischen Kompromiss« eher als Tragödie denn als »Errungenschaft«. Er meinte, dass sich die marxistische »Staatstheorie« Illusionen über ihren Gegenstand machte. Ihre Begriffe waren wie »Fotografien«: Hegemonie, Fordismus, Taylorismus etc. Diese Begriffe betonten bestimmte Muster der Nachkriegsgesellschaften, wie etwa die Bedeutung der Fließbandarbeit und des Massenkonsums, gleichzeitig aber waren sie historisch unspezifisch. Es entstand ein Bild von einer Gesellschaft, die eine stabile Form gefunden hatte, ein Rezept gegen Krisen. Natürlich musste dieses Bild, auch von der »Staatstheorie«, in dem Augenblick in Frage gestellt werden, in dem sich die Stabilität der Nachkriegsgesellschaften immer mehr auflöste. Allerdings bot die Theorie der »Formationen«, zumindest nach Holloways Auffassung, hierfür keinen geeigneten Ausgangspunkt. Für Holloway war und ist von zentraler Bedeutung, die Vergänglichkeit von Herrschaft zu begreifen. Er vertritt die Position, dass dies nicht möglich ist, wenn theoretische Modelle auf die übergeordneten Strukturen der Gesellschaft fixiert bleiben.

 

»Im Anfang ist der Schrei«

Wenn sich John Holloway auf die Kämpfe in Chiapas, Liverpool und Seattle bezieht, so sieht er diese weniger als Vorbilder und Modelle, sondern als Beispiele für einen Protest, der sich ständig unter der Oberfläche der bürgerlichen Öffentlichkeit abspielt. Der Protest gegen die herrschende Ordnung beginnt also viel früher als mit der offenen Rebellion. Holloway beschreibt dies in den ersten Worten des vorliegenden Buches: »Im Anfang ist der Schrei. Wir schreien« (S.10). Nicht der Rückzug und die Kontemplation, sondern die Negativität, die Unzufriedenheit, die Wut und die Verweigerung sind der Beginn des Nachdenkens. Aber bereits dieser erste Satz des Buches ist irritierend: Wer ist mit »Wir« gemeint? Welche Identität wird hier vorgegaukelt? Ist ein »Schrei der Verweigerung« nicht eine höchst individuelle Angelegenheit? Ist es nicht eine Anmaßung des Autors, seine LeserInnen ungefragt in ein Kollektiv einzubeziehen?

Holloway geht es darum, darzustellen, dass er die Illusion der bürgerlichen Wissenschaft, ihr Standpunkt sei »objektiv«, nicht teilt. Deshalb schreibt er nicht: »man schreit«. Das »Wir«, das er dieser Illusion entgegen setzt, stellt sich allerdings als brüchig heraus. »Der Schrei«, von dem Holloway ausgeht, wendet sich gegen Klassifikationen. Emanzipation bedeutet, die Festlegung bestimmter gesellschaftlicher Rollen im Rahmen der vorhandenen Arbeitsteilung zu durchbrechen und aufzuheben. Ziel sei insofern zum Beispiel nicht, und hier schließt Holloway an eine alte Idee von Marx an, dass die ›Arbeiterklasse‹ die Macht übernehme, sondern dass das Elend beendet wird, das grundlegend darin besteht, ›Arbeiterklasse‹ zu sein. Das »Wir«, von dem Holloway spricht, existiert lediglich in der Form des Widerstands gegen die »Klassifikation« oder, er zitiert hier einen Satz Adornos, als »konsequente(s) Bewusstsein von Nichtidentität« (S.18). Anders als für viele marxistische AutorInnen wird dieses Problem aus Holloways Sicht jedoch nicht erst nach der Revolution aktuell. Vielmehr ist der Widerstand gegen die herrschenden Klassifikationen eine Voraussetzung für das Entstehen von Befreiungsbewegungen.

Aus dieser These ergibt sich sofort die Frage, wer »TrägerIn« dieses Widerstandes sein könnte, was »Subjektivität« unter kapitalistischen Bedingungen ist bzw. wie sie produziert wird. Holloway folgt hier bis zu einem bestimmten Punkt Auffassungen Foucaults, der Macht als Verhältnis sah, in dem die »Unterdrückten« eine aktive Rolle spielen. Foucault interessierte sich für den Mikrokosmos, in dem die Integration der Beherrschten in Herrschaftsverhältnisse organisiert wird. Zwar ist, wie Holloway betont, »jegliche Definition des Subjekts (...) widersprüchlich oder sogar gewalttätig« (S.38). Aber diese Gewalttätigkeit ist nicht nur durch ein Gegenüber vermittelt, das uns beherrscht, ist kein nur äußerliches Phänomen. Im Gegensatz zur »vorherrschenden Sozialwissenschaft«, die »kreative Macht« als »bereits emanzipiert ansieht«, betont Holloway, dass »Subjektivität« nur antagonistisch, als »Anti-Macht«, existieren kann (S.52f.). Zwischen der Gewalttätigkeit der »Subjektivierung«, also der Unterordnung der »kreativen Macht« unter den kapitalistischen Verwertungsprozess und einer »Subjektivität« als »Bewegung gegen Begrenzungen, gegen Eindämmung, gegen Einschließung« (S.38) gibt es einen Widerspruch, der nach Holloway keineswegs entschieden ist. Nicht zuletzt gegenüber der »indirekten Steuerung« und ähnlichen topaktuellen Herrschaftstechniken ist es sicherlich wichtig, diesen Widerspruch zu betonen.

Im Folgenden geht Holloway über Foucault hinaus, für den nichts außerhalb einer bestimmten Konfiguration von Herrschaft existiert. Holloway betont, dass das Ausbrechen aus dem Herrschaftszusammenhang dauernd zu beobachten ist. Zwar sieht er wie Foucault Macht als etwas Unsicheres, Flüchtiges: Macht kann man nicht haben, sondern nur immer wieder erobern. Doch ist dies für Holloway eine hoffnungsvolle Botschaft: Der Kreislauf der Herrschaft könnte nicht nur irgendwann (nach der Revolution...) durchbrochen werden, er wird Tag für Tag in Frage gestellt. So lässt die Rebellion der Lohnarbeit gegen das Kapital zwar keineswegs »unvermeidbar« eine »andere Gesellschaft« entstehen, ja, sie erneuert gegebenenfalls sogar den Kreislauf der Unterwerfung. Aber sie ist ein Ansatzpunkt für die Hoffnung auf Emanzipation. »Anti-Macht« existiert, sie ist nichts Esoterisches. Denn auch das Gefängnis, in dem Foucault die Subjekte gefangen sieht, ist nur ein Provisorium.

Diese These versucht Holloway zu untermauern, indem er analysiert, welche Folgen die permanente Ausdehnung des Kapitalverhältnisses hat. Mit Lukács ist er der Auffassung, dass das Kapitalverhältnis »dem ganzen Bewusstsein der Menschen (seine) Struktur aufdrückt« (S.73). Dabei geht Holloway von einem Widerspruch zwischen »dem Tun« und »dem Getanen« aus: »Das Kapital basiert auf dem Einfrieren vergangenen Tuns von Menschen in Eigentum« (S.44). Die Auswirkungen der Ausdehnung des Kapitalverhältnisses sind nicht auf den Produktionsprozess im engeren Sinne beschränkt. In seiner Analyse des »Einfrierens des vergangenen Tuns« geht es Holloway also nicht lediglich um entlohnte Arbeit. Denn das »Einfrieren vergangenen Tuns« führt zu einem Paradox, das gesamtgesellschaftliche Auswirkungen hat.

Marx hat dieses Paradox als »Fetischisierung« bezeichnet. Holloway bezieht sich auf die entsprechenden Ausführungen im ersten Band des »Kapital« und fasst Marx’ Gedanken so zusammen: »Dinge (Geld, Kapital, Maschinen) werden zu Subjekten der Gesellschaft, Menschen (Arbeiter) zu ihren Objekten. Gesell-schaftliche Verhältnisse sind nicht nur scheinbar, sondern tatsächlich Verhältnisse zwischen Dingen« (S.67).

Voraussetzung für die »Fetischisierung« ist, dass die Vielfalt gesellschaftlich notwendiger Tätigkeiten aus ihrem kollektiven Zusammenhang gerissen wird. Mit der damit einher gehenden Individualisierung ist gleichzeitig eine »Identifikation« und eine »Klassifizierung« verbunden. Die Menschen spielen ihre Rolle, als Arbeiter, Frau, Mann, Mexikaner, Deutscher u.s.w. Staatliche Gewalt zielt wesentlich auf die Erhaltung dieser Klassifikationen. Emanzipatorische Bewegungen müssen versuchen, die verdinglichten Verhältnisse als Be-ziehungen zwischen Menschen aufzudecken. Notwendig ist eine Art »Rekonstruktion« des schöpferischen, kreativen »Tuns«, das zunächst nur als Widerstand gegen die Verdinglichung zu denken ist: »Der Kampf des Schreis (der Negation) ist der Kampf um die Befreiung der kreativen Macht von der instrumentellen Macht« (S.51).

 

Es gibt keinen Mond

Aber wie ist das möglich, in einer Gesellschaft, deren Grundlagen »Beziehungen zwischen Dingen« und die Instrumentalisierung und Objektivierung der menschlichen Tätigkeiten sind? Schließlich handelt es sich, wie Holloway betont, nicht nur um einen einmaligen Vorgang, sondern um einen permanenten Prozess, der mit der Ausdehnung des Kapitalverhältnisses immer mächtiger wird. Und wenn es kein »außerhalb« der kapitalistischen Welt gibt, keinen »Mond«, wie Holloway schreibt, von dem aus man die gesellschaftliche Entwicklung »sachlich« und »objektiv« analysieren könnte, wie kann die »Fetischisierung« dann überhaupt als Problem erkannt werden? Wenn »die Macht des Kapitals alles durchdringt« (S.93), die »individuellsten« Lebensäußerungen eingeschlossen, wie kann man dann überhaupt noch von der Möglichkeit von »Befreiung« sprechen?

Holloway bleibt an dieser Stelle bei einer strikten Ablehnung der Vorstellung, dass »die Wissenschaft« in dieser Hinsicht erweiterte Erkenntnismöglichkeiten habe. Im Gegenteil: Im Rahmen der gesellschaftlichen Arbeitsteilung sei der Wissenschaftsapparat dafür zuständig, die Naturhaftigkeit der gesellschaftlichen Erscheinungen darzustellen.

Holloway orientiert sich stark an Ernst Bloch, um einen Ausweg aus dem Dilemma zu formulieren: »Hoffnung« als Prinzip einer Kritischen Theorie. Er will sich auf Situationen beziehen, in denen sich eine Verweigerung von »Identifikation« und »Klassifikation« zeigt. Im Gegensatz zur »positiven« marxistischen Tradition (S.138) wendet er sich deshalb gegen die Vertröstung auf eine Eroberung der »Kommandohöhen« des Staates, die vollzogen wird, wenn die Partei nur einmal stark genug geworden ist.

Holloway teilt hier, bis zu einem gewissen Punkt, Positionen des so genannten Operaismus. Diese Richtung innerhalb des italienischen Marxismus hat seit Beginn der 1960er Jahre die in den Arbeiterparteien stark vertretenen fatalistischen Tendenzen angegriffen. Die Auffassung, man müsse nur auf die Zuspitzung des Widerspruches zwischen »Produktivkräften« und »Produktionsverhältnissen« warten, verschob die Revolution praktisch auf den St. Nimmerleinstag. Die »Operaisten« setzten dagegen die These, dass nicht die abstrakte »Entwicklung der Produktivkräfte«, sondern die verschiedenen Formen der alltäglichen Verweigerung der Arbeit das Kapitalverhältnis bestimmen. Die Umwälzung der technischen und räumlichen Organisation der Produktion ist aus dieser Perspektive letztlich auf diese Verweigerung zurückzuführen. In Anlehnung an die »Operaisten« betont Holloway die aktive Rolle, die die »lebendige Arbeit« bei der »Neuzusammensetzung« derselben spielt. Dies schließt jedoch eine dezidierte Kritik an Texten früherer Operaisten nicht aus. So wird in Negri und Hardts »Empire« nach Holloways Auffassung die »Subjektivität« fetischisiert. Für Negri und Hardt gibt es die »reine Subjektivität« des »Militant«, die der tendenziell »totalen Herrschaft« der »biopolitischen Kontrolle« starr gegenüber steht (S.200f.). Holloway betont dagegen, dass sich beide Formen gegenseitig durchdringen: »Das Bild des »Militant« hat überhaupt nichts mit der Erfahrung derjenigen von uns zu tun, die wir im dreckigen, unreinen Morast der Fetischisierung leben« (S.201). Die große Herausforderung emanzipatorischer Politik besteht vielmehr in der Verweigerung solcher fixer Identitäten.

John Holloways neues Buch beginnt mit einer Frage und endet mit einem Problem: Die greifbare, an Erfahrungen zu überprüfende Seite der »Negation« kann, wenn überhaupt, nur bruchstückhaft und vorläufig formuliert werden. Holloway spricht, sehr allgemein, von einer »Würde«, die zwischenmenschliche Beziehungen bestimmen könne. Der Aufstand von Chiapas (und anderswo) sei ein »Fest« und ein »Ausbruch des Lustprinzipes« (S.247). Im letzten Teil des Buches formuliert Holloway, dass Proteste auf Alternativen verweisen sollten, »alternative Formen des Tun bekräftigen«. Er benennt »kostenlosen Nahverkehr« und eine »andere Form der Gesundheitsversorgung« als Beispiele (S.245).

 

Holloways »Negation« und Rosas »Zwischenräume«

Allerdings erscheint die Protestbewegung am Ende des Buches als arg idyllische Angelegenheit. Es mag sein, dass die »Fetischisierung« für alle Individuen in einer kapitalistischen Gesellschaft prägend ist, auch für diejenigen, die größere Bewegungsspielräume haben. Das mag auch erklären, warum sich ein Professor in Puebla mit den Zapatistas solidarisieren kann. Aber es erklärt nicht hinreichend, warum sich nicht alle Professoren mit den Zapatistas identifizieren. Holloways neigt dazu, den »Schrei« zu einer einheitlichen, gleichzeitigen Angelegenheit zu machen (oder jedenfalls darauf zu hoffen, dass die verschiedenen Proteste auf die eine oder andere Art »zusammenkommen«). Der Text negiert die Widersprüche und Ungleichzeitigkeiten der Proteste zwar nicht, er geht aber auf die Hierarchien, die in diesen Widersprüchen erscheinen, so gut wie nicht ein. Zuschreibungen wie »Deutscher« oder »Mann« sind »Konstruktionen«, aber diese werden durch die Spaltung der Arbeitsmärkte, durch die ungleiche Verteilung von Existenzmöglichkeiten bedeutend. Solche Spaltungen müssen aktiv überwunden werden, wofür ein Bewusstsein der Ungleichheit (und der Untragbarkeit dieser Ungleichheit!) ebenso wichtig ist wie ein Bewusstsein von Gemeinsamkeit, Gleichheit und Würde (dessen Bedeutung Holloway sehr betont).

Eine andere Schwäche des Buches ist, dass Holloway den traditionellen Marxismus über einen Kamm schert. Über so unterschiedliche Figuren wie Eduard Bernstein und Rosa Luxemburg heißt es beispielsweise, dass beide »den Staat als geeigneten Ausgangspunkt zur Veränderung der Gesellschaft ins Zentrum ihrer Überlegungen« stellten (S.21). Die Partei wurde aufgebaut, um in einer de facto nicht definierbaren Zukunft die Staatsmacht zu erobern. Die »Befreiung der Arbeiterklasse« stellte man sich laut Holloway als Abfolge von Stufen vor, als eine kontinuierliche »Höherentwicklung«. Der Kampf um eine andere Gesellschaft hatte sich diesem Modell unterzuordnen: »Die Elemente des Kampfes, die nichts (zur Erlangung der Macht) beitragen, werden entweder für nachrangig erklärt oder ganz unterdrückt« (S.27).

So instruktiv dies ist - die Gleichung Kautsky=Lenin=Luxemburg verwischt einige wichtige Widersprüche innerhalb der »alten Linken«. (Siehe dazu auch den Beitrag »Keine Kirche...« in dieser Ausgabe des express; Anm. d. Red.)

Obwohl sicher richtig ist, dass Rosa Luxemburg die Parteiform als solche nicht abgelehnt hat, kann man ihr kaum vorwerfen, dass sie ihre Kritik an der Verselbständigung und Bürokratisierung der Partei (und später der jungen sowjetischen Regierung) nicht scharf und grundsätzlich formuliert hat. Auch mit der These, Rosa Luxemburg hätte die »sozialen Bewegungen« nur »transformatorisch« verstanden, liegt Holloway falsch. Vielleicht ist dies ein Missverständnis, denn Luxemburg schrieb, beispielsweise im Zusammenhang mit den Streikbewegungen von 1905, über »Zwischenräume« in einem ganz anderen Sinne: Ihre berühmt-berüch-tigte Spontaneitäts-These benennt nichts anderes als den konstitutiven Charakter der sozialen Bewegungen, die zunächst lange unsichtbar sind, um schließlich, für diejenigen, die der gesellschaftlichen Entwicklung naturhaften Charakter attestiert haben, überraschend auszubrechen. In Rosa Luxemburgs Zwischenräumen wird die leere, homogene Zeit angehalten (vgl. die Schüsse auf die Kirchturmuhren während der Pariser Kommune). Dieses Anhalten oder Einhalten ist ein Element dessen, was Holloway als Negativität bezeichnet.

 

Holloway meint, dass es nach dem Ende der Sowjetunion möglich geworden sei, das »revolutionäre Denken zu befreien« (S.31). Vielleicht hängt seine Wahrnehmung der SozialistInnen von Luxemburg bis Lenin als traditionell mit dieser These zusammen. Problematisch an dieser Wahrnehmung ist der Impetus des objektiv Neuen, der sich hier zeigt. Es scheint fast so, als sei das Aufkommen anti-hierarchischer, anti-staatlicher Bewegungen erst seit 1990 möglich bzw. denkbar. Neben der Tatsache, dass sich in der Geschichte der sozialistischen Bewegungen zahlreiche Beweise für das Gegenteil finden - jedeR LeserIn kann sich sein/ihr Lieblingsbeispiel selbst denken - widerspricht diese Vorstellung auch grundlegenden Thesen des vorliegenden Buches, dessen Stärke u.a. ist, immer wieder die Bedeutung eines Handelns zu betonen, das nicht durch die Entwicklung der Produktionsverhältnisse einseitig vorbestimmt ist. Wie dem auch sei: Das Buch, in der deutschen Übersetzung von Lars Stubbe, ist unbedingt lesenswert. Obwohl es komplexe Zusammenhänge diskutiert, ist es in einer sehr bildhaften und klaren Sprache verfasst. Der Verlag bietet es, nicht ganz zu Unrecht, als Einstieg in den »kritischen Marxismus« an. Kein leichter, aber vielleicht ein lohnender Einstieg.

John Holloway: »Die Welt verändern, ohne die Macht zu übernehmen«, Westfälisches Dampfboot, Münster 2002, ISBN 3-89691-514-2, Preis: 24,80 Euro, 255 Seiten

Peter Birke
erschienen im Express,
Zeitschrift für sozialistische Betriebs- und Gewerkschaftsarbeit, 1/03

http://www.labournet.de/express/index.html

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